Unsere Geschichte beginnt im Norden Albas in den östlichen Ausläufern des Penganniongebirges, das Alba und Clanngadarn von einander trennt. Von den Bergen eingeschlossen liegt hier das wunderschöne Halfdal, die Heimat der Halblinge. Die Halblinge sind ein friedliches Volk. Nichts geht ihnen über ein gemütliches Zuhause, ihre Tabakspfeife und einen oder mehr Krüge Bier. Auch sind sie im allgemeinen sehr tolerant ihren Artgenossen gegenüber, nur einmal machten die Halblinge in Valbron da eine Ausnahme.
Friso war das erste und einzige Kind von Finde und Ferdi Dandelin. Sie hatten sich so sehr auf ihr Kind gefreut, dass Ferdi nicht nur in ganz Valbron, sondern auch in Dodinel, Meliand, Everbras, Kringel und Windest, kurz im halben Halfdal verkünden ließ, es werde ein großes Fest zur Geburt seines Kindes geben und alle Halblinge wären dazu herzlich eingeladen. Und weil die Halblinge nun einmal von Natur aus gerne feiern, kamen Hunderte angereist, um Ferdi Dandelins Fest nicht zu verpassen.
Zum Glück waren die Dandelins aus Tradition heraus nicht unvermögend. Ferdis Urahn, Frederic Dandelin, war zu einigem Geld gekommen. Lange nach seinem Tod erinnerte man sich noch genau an ihn, d.h. an seinem Künstlernamen: „Friedensreich Dutzendwasser”, denn er war der Erfinder der untereinander verbundenen Wohnhügel gewesen. Vorher hatten die Halblinge in ungemütlichen Höhlen gelebt und keiner hatte das wirklich gemocht. Und so flossen hundert Jahre lang Patentzahlungen für jeden im Halfdal gebauten Wohnhügel an die Familie der Dandelins, und ein beträchtliches Vermögen war zustande gekommen, auf das jede neue Generation der Dandelin ein wachsames Auge gehabt hatte.
Viele, lange Tische waren mit den köstlichsten Braten und den herrlichsten Kugelpuddingen überfüllt, die Bierfässer wurden 4 halblinghoch gestapelt und warteten nur darauf, angezapft zu werden. An die tausend Halblinge hatten es sich auf der Gesetzesweide in Valbron und vor dem Wohnhügel der Dandelins gemütlich gemacht.
Plötzlich drang ein Schrei durch das angeregte und fröhliche Gemurmel der Gesellschaft, der einem jeden Halbling augenblicklich durch Mark und Bein fuhr. Im selben Augenblick war die ausgelassene Fröhlichkeit wie weggeblasen und eine bedrückende Stille trat ein. Da trat Ferdi benommen und mit versteinertem Gesicht aus seinem Wohnhügel, einen Jungen in den Händen haltend. Langsam und mit starrem Blick schritt er an den aufgesprungenen Gästen entlang. Niemand sagte ein einziges Wort. Aber leichenblass wurde die sonst so rosige Gesichtsfarbe der Halblinge, die einen Blick auf das Neugeborene warfen.
Das war kein Halbling, nicht einmal ein Junge, den Ferdi da in seinen Händen hielt. Da waren sich alle in stillem Einverständis einig. Lautlos zogen sich die Gäste zurück. Keiner wagte es, Ferdi ins Gesicht zu blicken. Nur die Nachbarin, die alte Lynette, schüttelte den Kopf und sagte: „Fürchterliche Rasse, Irgendwie Sowie Ork”, bevor sie zurück in ihre Hütte humpelte.
Das blieben die einzigen Worte, die laut gesprochen wurden und sie klangen lange in Ferdis Ohren nach. Als er zurück in seine Hütte kam und vor das Bett seiner Frau trat, sagte er: „Finde, unser Sohn soll FRISO heißen und sobald du dich erholt hast, verlassen wir das Halfdal und kehren nie mehr zurück.”„Ist recht, mein Mann”, sagte Finde, die eine starke Frau war, „lass’ uns nur gleich die Sachen packen und aufbrechen.” Das waren die letzten Worte, die Finde und Ferdi jemals im Halfdal mit einander sprachen.
Wortlos packte Ferdi etwas Braten und Kugelpudding von der Tafel in den Rucksack, wortlos ging er in den Wohnhügel, um den Schatz, der aus einer erlesenen Edelsteinsammlung bestand, aus der Truhe zu holen, wortlos band er den kleinen Friso in ein Tuch und um seine Brust und wortlos verließen die drei Valbron. Der Weg aus dem Halfdal führte sie zwangsweise durch die Dörfer: Dodinel, Meliand und Everbras. Mit gesenktem Haupt und schweren Herzens kämpften sie sich Schritt für Schritt durch die Siedlungen. Es war zwar niemand zu sehen, die Plätze ganz leer, aber die Halblinge standen alle ängstlich hinter ihren Fenstern, sicher in ihren Wohnhügeln, und starren auf die Dandelins. Erst als sie die letzten Hügel von Everbras hinter sich gelassen hatten und die Blauwasserschlucht vor ihnen lag, wurden ihre Schritte leichter.
Zwei Tage später, als sie die Berge hinter sich gelassen hatten und die Hochebene von Offa erreichten, legte Finde die Hand auf Ferdis Schulter und sagte: „Jetzt beginnt ein neues Leben. Wir schaffen das schon. Friso ist unser Sohn und es soll ihm an unserer Liebe nicht mangeln.” Ferdi nickte stumm, und seine traurigen Augen blickten eine Spur hoffnungsvoller. Keinen Moment lang hatte er daran gedacht, dass seine Frau eine Schuld an dieser Ausgeburt von Hässlichkeit tragen würde. Er machte nur sich selbst dafür verantwortlich. Findes Zuversicht aber gab ihm Kraft und er nahm sich vor, ein guter, liebevoller Vater zu werden.
Die Dandelins ließen sich in den nördlichen Ausläufern des Waldes von Tureliand nieder, keine 10 km von Twineward entfernt. Sie hatten hier einen verfallenen Bauernhof entdeckt, den sie den Menschen in Twineward für ein paar Goldmünzen abkaufen konnten. Ferdi, der so was wie ein Feld-Wald-und-Wiesenarzt im Halfdal gewesen war, hatte nämlich gleich gesehen, dass rund um den Bauernhof die besten Kräuter wuchsen. Schnell hatte er einen wunderschönen Wohnhügel auf dem Hof gebaut. Der alte Frederic, will sagen: Friedensreich, wäre stolz auf seinen Urahn gewesen. Vorratsräume, Schlafräume, Wohnung und Küche waren alle mit einem Tunnelsystem verbunden, das seines gleichen suchte. Einer der unterirdischen Tunnel führte sogar bis zur Scheune. Die alte Scheue des Bauernhofes war nämlich noch in einem recht guten Zustand gewesen und ließ sich einfach als Produktionsstätte ausbauen. Hier trockneten die gesammelten Kräuter und wurden zu Salben verkocht, bevor sie tief unter der Erde eingelagert wurden.
Finde machte sich alle zwei Wochen auf, um in Twineward die Pasten und Mixturen auf dem Wochenmarkt zu verkaufen. Friso wuchs auf dem alten Bauernhof ohne jeglichen Kontakt zu den Menschen auf und konnte sich doch ganz frei bewegen. Schon bald kam er mit, wenn sein Vater Kräuter sammeln ging und kannte sich im Handumdrehen so gut aus, dass er bereits mit sieben Jahren alleine Kräuter sammeln durfte. Tiefer und tiefer ging er in den Wald hinein und fand immer seltenere Pflanzen.
Mit zehn Jahren kochte er seine ersten Tinkturen und mixte sachgerecht fast alle Salben, die sein Vater kannte. Noch ein paar Jahre weiter und Friso begann eigene Kombinationen mit Kräutern zu versuchen und nahm auch ganz neue Herbarien mit in diese Versuche auf. Es war eine ruhige und doch so spannende, eine einsame und doch so erfüllte Kindheit, die Friso zuteil wurde.
Eines Tages aber, und es war klar, dass dieser Tag kommen musste, begegnete Friso auf seinen ausgedehnten Sammeltouren den ersten Menschen. Es waren drei alte Weiber, die in den Wald gekommen waren, um Holz zu sammeln. Neugierig ging Friso näher, um diese Menschen, von denen seine Mutter schon so viel erzählt hatte, endlich einmal mit eigenen Augen zu betrachten. Kaum aber hatte die erste Alte ihn bemerkt und angesehen, begann sie ein solch erbärmliches Wehklagen, dass Friso ganz bedrückt wurde. Und damit nicht genug, die beiden anderen Weiber stimmten sogleich in das Jammern mit ein, schlugen die Hände über ihren Köpfen zusammen und schienen jemanden in den Baumwipfeln um Hilfe anzurufen. Als Friso vor lauter Schreck aber wie angewurzelt stehenblieb, nahmen die Alten ihre Beine in die Hand und liefen, so schnell es ihre alten Knochen erlaubten, fort aus dem Wald. Verstört ging Friso nach Hause und berichtete seiner Mutter von dem Vorfall.
Da nahm ihn Finde auf ihren Schoß - obwohl Friso dafür eigentlich schon viel zu alt war - und umarmte ihn ganz fest. Leise aber mit klarer Stimme erzählte sie ihm die ganze Geschichte: wie sie und Ferdi das Halfdal verlassen hatten, sich hier angesiedelt und stets versucht hatten zu verhindern, dass ihn irgendjemand zu Gesicht bekam. Und das alles nur, weil er nun einmal nicht so aussehen würde, wie ein gewöhnlicher Halbling eben auszusehen habe.
Finde vermied es die Worte: „abgrundtief”, „ekelerregend” oder „hässlich” zu benutzen, aber Friso war schlau genug, um zu begreifen, dass er sowohl für Halblinge, als auch für Menschen kein einfach zu ertragender Anblick war. Seine Mutter sah ihn an und wußte sofort, dass Friso die Bedeutung ihrer Worte begriffen hatte. Sie gab ihm einen Kuss und sagte: „Das sind aber nur Äußerlichkeiten. Nur einfache und schwache Kreaturen bewerten ihren Gegenüber nach dem Erscheinungsbild. Die wahren Werte findest du in deinem Herzen. Es ist die Liebe, die alles Sterbliche den Göttern ebenbürtig macht. Ich wünsche, du mögest in der Bedeutung der Liebe unterrichtet werden, damit du stark genug wirst, um die Wahrheit zu erkennen.”
Voller Freude rief Friso: „Aber natürlich, meine geliebte Mutter, unterrichte mich. Ich will die Liebe lernen.” Da aber schüttelte Finde ihre strubbeligen Haare und erwiderte: „Das, mein kleiner, großer Friso, kann ich nicht. Dein Vater und ich haben alles dafür getan, die Saat der Liebe in dir auszubringen und die ersten, zarten Knospen zu ziehen. Wenn daraus aber ein starker Baum erwachsen soll, so musst du in die Lehre bei einem Vanapriester, einem Priester der Fruchtbarkeit und Erde, gehen. Nur ein Geweihter dieser Schule vermag dir die ganze Kraft der Fruchtbarkeitsgöttin Vana und die wahre Natur der Liebe zu enthüllen.”
„Nun, Mutter, dann will ich das tun”, murmelte Friso enttäuscht. „Sei nicht albern, Friso. Du sollst uns ja nicht verlassen”, lächelte Finde ihn fröhlich an: „Ich habe einen solchen Priester vor einem halben Jahr in Twineward kennengelernt. Er heißt: Ian MacCairil aus dem Clan der Cairils und er kommt jedes Jahr für ein paar Monate in den Wald, um in der Waldkapelle zu beten und zu leben und sich ganz auf seine Göttin Varna zu konzentrieren. Ich habe schon mit ihm gesprochen und er wäre sehr erfreut, wenn du ihm noch in diesem Jahr bei seinen Studien Gesellschaft leisten würdest.”
Friso ging gerne zur Waldkapelle. Zwar war er dort nie jemandem begegnet, aber er hatte sie während seiner Kräutertouren schon oft besucht und stets eine so wunderbare Glückseligkeit in ihrer Nähe empfunden, dass ihn seine Wege immer öfter ganz bewusst dort entlang geführt hatten.
Ian MacCairil war ein Mann in den besten Jahren, mit langem grauen Bart und einem ordentlichen Bauch. Das gefiel Friso sofort. Auch verzog Ian keine Mine, als er Friso sah, sondern begann mit freundlicher und warmer Stimme zu reden: „So, du bist nun also Friso. Meine Name ist Ian. Hocherfreut deine Bekanntschaft zu machen.” Mit diesen Worten streckte Ian seine Hand Friso entgegen. Er musste sich dabei noch nicht einmal nicht übermäßig bücken, denn er war selbst gerade mal anderthalb Meter groß und nur 40 cm größer als Friso. Überglücklich ergriff Friso Ian’s Hand und zuckte aber doch ordentlich zusammen, als Ian zum Gruß recht zünftig zudrückte.
Die beiden verband schnell eine tiefe Freundschaft. In den nächsten sieben Jahren verbrachten Ian und Friso jedes Jahr zwei bis drei Monate lange den Sommer gemeinsam in der Waldkapelle. Und obwohl Friso nie ein Kloster besuchte und den Gebäuden des Varnaordens auch sonst nicht näher kam, so wusste er nach sieben Jahren doch viel mehr, als mach ein Adept sein Leben lang erlernt.
So kam es auch, dass Ian am Ende ihres siebten Sommers Friso zu sich nahm und sagte: „Mein lieber Friso, Du kennst nun alle Gebete und Meditationen, deren ich selber mächtig bin. Du kannst Heiltränke zubereiten und Bedürftigen mit Brot und Wasser …”, Ian hielt inne, schüttelte seinen Kopf und schmunzelte: „…wollte sagen, mit Kuchen und Tee aus der Not helfen und Du hast sogar gelernt, den Fluss der Zeit zu verlassen, um Dich doppelt so schnell wie normal zu bewegen! Du bist der Liebe so nahe gekommen, Du hast es nun verdient, selbst als ein Varnapriester zu lehren. Sieh her. Dies ist mein Abschiedsgeschenk an Dich. Möge sie Dir Glück bringen, so wie sie mir in den letzten 30 Jahren stets zur Seite stand.” Mit diesen Worten überreichte Ian MacCairil Friso seine Sichel, die er all die Jahre an seinem Gürtel getragen hatte. Friso war sprachlos. Wie gerne hätte er Ian auch ein Freude gemacht. Da fiel ihm ein ganz besonderes, sehr seltenes Kraut ein, das er gefunden hatte. Es war ihm gelungen, einen Trank daraus zu bereiten, der Krankheit natürlichem Ursprungs augenblicklich heilen konnte und es fiel ihm ein, wie gut es war, dass er stets ein Fläschchen davon bei sich hatte. Überglücklich überreichte Friso Ian seine erste, selbstentwickelte Medizin. Als Friso dem alten Priester erklärt hatte, wofür seine Medizin taugte, nickte Ian MacCairil lange sehr anerkennend und sagte mit tief empfundener Hochachtung: „Friso, Du bist doch ein wahrer Quaksalber.” Friso war so stolz, dass er beschloss, sich von diesem Tag an stets mit: „Friso Quacksalber, Varnapriester” vorzustellen.